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»Er sitzt eingefallen auf seinem Bett und starrt auf einen offenen Schuhkarton. Auf der ganzen Matratze liegen beschriebene Blätter verteilt, immer dieselbe Tinte, immer dieselbe Handschrift. Die ohne Linie. In der Kiste liegen noch einige Postkarten, eine CD und ein paar ausgeblichene Fotos. Das macht er immer. Immer, wenn sie ihm fehlt, zieht er den Pappkarton unter seinem Bett hervor uns breitet alles um sicher herum aus. Dann fühlt es sich kurz so an, als wäre sie noch da. Als wäre sie bei ihm. Würde ihm Geschichten erzählen und ihn anlächeln. Das fängt ihn auf. Das hält ihn warm, wenn keine Decke dick genug ist. Wenn er sie vermisst, legt er sich mit ihr schlafen. Mit seinen Erinnerungen an sie. Und jedes Mal, wenn sie an ihn denkt, so dass er das fühlen kann, wirft es ihn kurz aus der Bahn.

September 2008

Hallo.
Die Welt ist furchtbar seltsam, findest du nicht? Ich finde sie seltsam. Uns Menschen finde ich seltsam. Sind wir manchmal nicht einfach völlig verrückt? Verrückt und paradox? Ich meine, wir schweigen. Wir schweigen einfach, obwohl wir innerlich so laut schreien, dass unser Trommelfell platzt. Wir wollen verzweifelt, dass uns jemand hört, halten aber trotzdem den Mund, wenn jemand neben uns steht. Oder wir fragen. Wenn wir denn mal die Stimme dazu haben sprechen wir Dinge aus, stellen Fragen in den Raum, obwohl wir im vorigen Atemzug wissen, dass es darauf keine Antwort gibt. Wir wissen das. Und trotzdem sprechen wir es aus. Und dann bringt es uns um den Schlaf, dass keiner etwas darauf erwidert. Dass niemand etwas zu sagen hat. Obwohl wir doch wussten, dass es so kommt. Wir warten. Wir warten wirklich auf Dinge, deren Zeit längst abgelaufen ist. Und wir sehen das. Wir sehen, dass die Zeiger still stehen, dass sich nichts mehr bewegt und trotzdem werden wir nicht müde, darauf zu warten, dass etwas passiert. Findest du das nicht seltsam? Wie die Dinge so sind? Wie alles so passiert? Wir werden gerettet, wenn wir am wenigsten gefunden werden wollen, aber wenn wir um Hilfe rufen, dann wird das überhört. Dann sieht keiner hin. Wir verlieren uns hoffnungslos in Träumereien, die am Tag nicht überleben können, weil sie die Nacht zum atmen brauchen, aber wen der Glaube uns wirklich verlässt und alle Zweifel uns eingeholt haben fangen wir an, auf bessere Zeiten zu hoffen. Ist das nicht blanker Selbstmord? Wege einzuschlagen, denen wir nicht gewachsen sind, weil unsere Füße bluten und unsere Kräfte schwinden, und trotzdem lassen wir nicht davon ab, einen Schritt vor den anderen zu setzen? Warum sind wir so verkorkst? Warum ist alles so verdreht? Das ergibt in meinen Augen alles keinen Sinn. Und trotzdem gehöre ich genau zu diesen Menschen. Ich kämpfe um dich, obwohl du eigentlich schon verloren bist. Aber alles was ich bin klammert sich so an das, was wir hatten, dass es völlig egal ist, wie aussichtslos es scheinen mag. Klingt das verrückt? Vielleicht. Aber so ist das eben, wenn man liebt. Genau so ist das. Da macht man seltsame Dinge. Dinge, die man nicht versteht. Die man nicht versteht und eigentlich auch überhaupt nicht will, weil man eigentlich weiß, dass man sich umbringt. Man steht nur da und flüstert leise, dass man nichts zu verlieren hat. Außer das, was noch von einem übrig ist. Aber im Stillen, im Stillen ist immer noch alles möglich. Im Stillen kann ich uns immer noch retten. Oder zumindest verhindern, dass wir uns verlieren.

PS: Heute ist Sonntag. Heute in einer Woche an der Bank unten am Fluss. Am 14. September, um vier. Wegen meiner Stille. Bitte, erkläre mir, warum wir dabei sind uns zu verlieren. Und gib mir die Chance uns noch zu retten.

Manchmal fragt er sich, wie viel sie wohl erträgt. Wie weit sie ihm folgt, ehe sie aufgibt. Ob sie überhaupt aufgibt. Wie viel Kraft in ihr steckt um um ihn zu kämpfen. Wie groß sie werden kann um sie beide zu retten. Ob sie das überhaupt schafft. Ob sie stark genug ist, seine Schwächen mitzutragen. Oder ob sie scheitert. Ob sie auf halber Strecke liegen bleibt, weil sie sich selbst nicht mehr tragen kann. Zerbricht. Aber im Stillen, im Stillen wünscht er sich nur, dass sie bleibt. Egal wie weit er sich von ihr entfernt. Dass sie ihn nicht loslässt. Egal wie oft er ihre Hand wegstößt.«