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Unbenannt

Und dann steht sie still.
Nein. Nein, kein Menschenleben in Beirut, Bagdad, Tunesien, im Libanon, in einem russischen Flugzeug, in Syrien und jedem anderen Land ist weniger wert. Keins davon. Nicht ein einziger aller Hingerichteter ist es. Wir fühlen nicht nur mit Paris. Bei jedem Anschlag, ganz egal wo er passiert, bei jedem ausgelöschten Leben sitzen wir vor den Bildschirmen oder der Zeitung, schlagen die Hände vor das Gesicht und sind fassungslos. Immer. Jeden Tag wenn es passiert und wir es sehen oder lesen. Und dann blättern wir weiter, der nächste Beitrag kommt und es verschwindet. Es verschwindet einfach, weil es zu grausam ist, um sich damit zu beschäftigen. Mir bricht es jedes Mal das Herz.
Wenn ich höre, wie ganze Völker in Afrika abgeschlachtet werden wie Tiere und kleine syrische Kinder von Gotteskämpfern zum töten gefoltert werden. Es passiert. Jeden Tag. Und wenn wir aufmerksam sind geht es nicht an uns vorbei. Wir bemerken es. Die Grausamkeit in der Welt. Wir lassen nur nicht zu, dass sie uns einnimmt. Wir blättern weiter. Weil es zu weit weg ist um es in seinem ganzen Ausmaß zu fühlen.
Und dann sitzen dort Menschen auf ihren Sofas und kommentieren überall, wo Menschen trauern, fassungslos sind und schockiert, das jeden Tag überall Menschen sterben, für die man so viel mehr beten muss, als für Paris. Sie sitzen da und belehren die Welt über ihre Scheinheiligkeit. Schimpfen über Politiker und über Heuchelei. Und verstehen überhaupt nicht was eigentlich wirklich passiert, weil sie überhaupt nichts fühlen.
Ganz plötzlich, ohne jede Vorwarnung wird all die Angst, all die Grausamkeit, vor der so viele Menschen in fernen Ländern flüchten, um ihr Leben laufen, real. Ganz plötzlich wird sie real. Greifbar. Alles, was wir aus der Zeitung kennen, alles, was auf dem Bildschirm Angst und schrecken zurück lässt, ist plötzlich vor der eigenen Tür.
Plötzlich passiert es „in unserer“ Welt. Von der wir glaubten sie sei unverletzlich, unerschütterlich und sicher. Plötzlich ist alles so nah, dass unser Herz aufhört zu schlagen, weil wir die Luft anhalten und hoffen, dass es aufhört. Plötzlich sind wir mittendrin und Menschen sterben auf Straßen, auf denen wir vielleicht selbst schon waren, in Cafés in denen wir selbst schon saßen, an Orten, an denen wir selbst schon glücklich waren. Plötzlich ist es in unserer Mitte, in unserer heilen Welt und reißt uns aus den Angeln. Plötzlich bleibt die Welt einfach stehen. Für uns, hier. Weil alles plötzlich so nah ist, dass uns schlagartig bewusst wird, dass wir nicht unerschütterlich sind, nicht unverletzlich. Dass es ganz egal ist wer wir sind. Plötzlich ist sie real, diese Angst, diese Grausamkeit und diese Trauer.
Und dann sitzen dort Menschen auf ihren Sofas und belehren die Welt mit ihren Weißheiten über „was ist mit denen, die…“
Und verstehen nicht, dass all das, was „die“ durchleben mussten plötzlich mitten unter uns passiert und in diesen Momenten nichts von uns übrig lässt. Keine Worte, dir sagen können, keinen Trost, den wir spenden können, keine Antwort die wir geben können. Plötzlich fühlen sich alle verbunden in ihrer Angst, ihrer Trauer, ihrer Fassungslosigkeit und ihrer Stille. Plötzlich passiert es hier, entegen all unserer Logik und versetzt uns in einen Zustand, mit dem wir nicht umgehen können. Plötzlich sehen wir grausame Nachrichten, die nicht aus einem fernen Land kommen. Die nicht ganz weit weg sind. Plötzlich wird für uns Realität, was woanders tragischer Alltag ist.
Und dann sitzen dort Menschen auf dem Sofa und glauben sie retten die Welt, in dem sie nichts tun. Haben für alles eine Lösung und zu allem eine Meinung.
Es hat noch keiner die Welt vom Sofa aus gerettet, mit ein paar Fingern an den Tasten und ein paar klugen Weißheiten auf den Lippen.
Plötzlich ist die Welt Paris. Nicht Beirut, nicht Bagdad, nicht Syrien, kein anderes Land. Plötzlich ist die Welt Paris. Weil plötzlich alles ins Wanken gerät, was man kennt. Plötzlich kann man nicht mehr weiter blättern. Nicht mehr wegschalten.
Es wird plötzlich ungeheuerlich und grausam real. Und das ändert alles.

Illustration: Jean Jullien

Seit vorgestern Nacht bin ich still. Ich glaube, ich war selten innerlich so still, erschüttert und traurig wie die letzten 38 Stunden. Und ich glaube, mein halbes französisches Herz hat noch nie so für Frankreich geschlagen, wie heute mein Ganzes.